Es hat keinen Sinn. Ich kann so wie so nicht mehr einschlafen. Dann
kann ich genau so gut auch aufstehen. Es ist jetzt 23:15. Wenn ich 0:00
losfahre, ist das Rechnen leicht.
Das Fahrrad steht fertig bepackt in der Garage. Kein besonderes Rad.
Den Rahmen habe ich damals nur deshalb vom Sperrmüll mitgenommen,
weil ich den Dynamo für das Fahrrad meiner Tochter brauchte, und ich gerade
kein Werkzeug dabei hatte, um ihn sofort abzuschrauben. Immerhin ein guter
DDR-Sportradrahmen. Vor 20 Jahren war man der King, wenn man so etwas besaß.
Hinten eine alte 5-Gang Nabenschaltung mit Stahlfelge, vorn eine Alufelge
mit Felgenbremse. Die Reifen: 15 Jahre alte PANARACER, aber unbenutzt.
Wir hatten sie 1992 in Island mit, als Ersatzreifen. Schutzbleche, Gepäckträger,
Dynamolicht und Reflektoren. Keine Speichenreflektoren, die fallen immer
ab, dafür sind Jenas Straßen zu schlecht. Zusätzlich noch
ein Batterielicht für vorn und hinten. Da spart man die Kraft für
den Dynamo. Neuestes Teil am Fahrrad ist ein Fahrradcomputer, erst letzten
Monat gekauft.
In den Packtaschen ist Flickzeug, ein Reserveschlauch, Regenzeug, meine Badehose und
Proviant: 6 Brötchen, 3 mit Salami und 3 mit Schnittkäse, zwei
5er Packungen SNICKERS, und eine 1,5 Literflasche Cola.
Und eine Liste mit den Etappen meiner Tour. Startpunkt ist Jena. Endpunkt
ist Zinnowitz auf Usedom. An der Ostsee. 471 Kilometer.
Geplant ist das ganze als Tagestour. Naja, nicht ganz. Etwas länger
als 24 Stunden werde ich brauchen.
Auf der Liste sind Spalten für die Etappenziele, die
Kilometer, die Gesamtkilometer und noch zwei weitere: Eine für die
Zeit mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 20 km/h, also 5 Stunden
für 100 km, und eine für die Zeit mit 16,6 km/h, also 6 Stunden
für 100 km. Bei 20 km/h wäre ich in 24 Stunden da. Das ist nicht
zu schaffen. Da mache ich mir nichts vor. Der Fahrradcomputer zeigt, wenn
ich in der Ebene fahre, normalerweise eine Durchschnittsgeschwindigkeit
von 22 oder 23 km/h an, aber das ist ohne Pausen. Und Pausen werde ich
brauchen. 16,6 km/h sind realistisch.
Punkt 0:00 fahre ich los. Das erste Etappenziel ist Eisenberg. 26 km
hat ViaMichelin ausgerechnet.
Das erste Missgeschick passiert viel eher: Ich bin noch keinen Kilometer
gefahren. Die Halterung des Batterierücklichts übersteht die
Bordsteinkante vor dem OBI-Tunnel nicht. Das Rücklicht fällt
auf den Beton - aus, kaputt. Alle Schüttel- und Wiederbelebungsversuche
bringen es höchstens kurzzeitig zum Leuchten.
Also schalte ich den Dynamo ein. Schönes helles Licht jetzt, aber
mindestens 5 Watt meiner kostbaren Tretleistung muss ich nun für den
Antrieb des Dynamos opfern.
Die ersten Kilometer hinter dem Ortsausgangsschild von Jena geht es
bergauf.
Was tue ich da eigentlich? Habe ich wirklich eine Chance, diese Strecke
zu schaffen? Gut, ich fahre jeden Tag auf Arbeit, reichlich 15 km hin und
zurück. Auch im Winter. Eine gerade Strecke, fast ohne Steigungen.
Meine letzte längere Strecke war die Betriebsradtour vor 5 Wochen.
Rund 50 km, eine Strecke, nach der man eigentlich zufrieden ist. Was ich
vorhabe ist rund das zehnfache.
Reichlich 300 km bin ich schon mal gefahren. Jena - Zittau. 18 Stunden
habe ich gebraucht. Das war 1983, das ist also 24 Jahre her.
Bürgel. Am Tag könnte ich jetzt hier ein Eis essen. Im Schein
der Straßenlaternen versuche ich, die Anzeige des Tachos zu erkennen.
Nur an besonders hell beleuchteten Kreuzungen gelingt es mir. Der Moment,
in dem das Licht im richtigen Winkel auf die LCD-Anzeige fällt ist
kurz. Meist ist es nur knapp über 20 km/h. Bin ich jetzt schon so
lahm? Oder liegt es daran, dass ich mit Dynamo fahren muss? Ich habe den
Eindruck, dass das ganz schön bremst.
Eisenberg. Die erste Etappe ist geschafft. Es ist 1:27. Nun geht es
erstmal vorwiegend bergab. Zumindest bis Crossen.
Kurz vor dem Tierpark geht mein Licht aus. Bevor ich mich umdrehen
kann, um zu sehen, ob das Rücklicht auch aus ist, leuchtet es wieder. Ich bin etwas
beunruhigt. Ohne Licht jetzt wäre es unangenehm.
Ab Crossen fahre ich auf der B2. Diese wird mich jetzt bis Potsdam
begleiten. (Bei späteren Touren habe ich festgestellt, dass es hier noch gar nicht
die B2 ist) Es ist völlig dunkel und es sind keine Autos mehr unterwegs.
Ich mache den Dynamo aus und schalte vorn das Batterielicht ein. Wenn ein
Auto von hinten kommt, werde ich den Dynamo wieder an machen, damit das Rücklicht leuchtet.
Die Strecke ist ziemlich eintönig. Manchmal tritt es sich schwerer.
Dann muss es wohl bergauf gehen. Erkennen kann ich nichts.
2:49 bin ich in Zeitz. Ich mache den Dynamo an. Wegen der Straßenbeleuchtung
kann ich nicht rechtzeitig erkennen, wenn von hinten ein Auto kommt. Das
Rad dreht sich schwerer, aber kein Licht. Ich schaue nach: Der Dynamo rutscht
und lässt sich mit großer Kraft gerade so noch von Hand drehen. Das Lager der Dynamowelle hat sich festgefressen.
Ich mache erst mal eine Pause. 50 km habe ich hinter mir. Grob gerechnet
ein Zehntel. Da kann ich jetzt eins von meinen zehn SNICKERS essen. Was
mache ich nun? Mit dem Batterielicht vorn weiter und wenn ein Auto kommt,
rechts runter von der Straße? Oder verlasse ich mich auf den großen
Reflektor hinten am Fahrrad?
Während ich mein SNICKERS esse, zerlege ich das Batterierücklicht.
Ein Batteriekontakt ist von der Leiterplatte mit den Leuchtdioden abgebrochen.
Wenn ich ein Stück vom Snickerspapier, mehrfach gefaltet, zwischen
den Kontakt und das Gehäuse schiebe, geht es wieder. Da kann ich ja
beruhigt weiter fahren.
Vor der nächsten Etappe graut mir etwas. 30 km. Anderthalb Stunden.
Ziemlich öde. Ehemaliges Braunkohlegebiet. Egal, im Dunklen sehe ich
von der Landschaft eh nichts.
An einer rot leuchtenden Baustellenampel fahre ich einfach vorbei.
Normalerweise mache ich so etwas nicht. Da bleibe ich an der Ampel stehen,
auch wenn die Erstklässler neben mir die Straße bei Rot überqueren.
Aber hier würde ich es mit dem Fahrrad sowieso nicht schaffen, innerhalb
der Ampelphase die Baustelle zu durchqueren. Wenn tatsächlich Gegenverkehr
kommen sollte, sehe ich ihn lange vorher. Auf der Baustelle kann ich jederzeit
runter von der Straße. Aber ich habe schon 2 Stunden lang kein Auto
mehr gesehen.
Es wird leicht nebelig. Mitten auf dem Feld steht an einer Straßenkreuzung
eine weitere Ampel und beleuchtet die Landschaft mit ihrem wechselnden
Licht. Ich wusste nicht, dass eine Ampel so hell ist. In der Stadt fällt
das wegen der Straßenbeleuchtung nicht auf. Mit dem Auto auch nicht.
Aber wegen der Fahrradfunzel haben sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt.
Schon 4:05 erreiche ich Probstdeuben, mein drittes Etappenziel. Im
Osten ist ein erster heller Streifen zu sehen. 78 km habe ich jetzt hinter
mir. Ein weiteres SNICKERS.
Hier muss ich die B2 erst mal verlassen. Durch Leipzig durch ist sie
teilweise 4-spurig ausgebaut, da möchte ich sie nicht benutzen, wahrscheinlich
dürfte ich das auch nicht.
Während ich durch Leipzig fahre, wird es langsam hell. Es gibt
hier reichlich Radwege. Das ist ungünstig, denn so muss man an vielen
Kreuzungen zweimal auf Grün warten, um sie zu überqueren. Auf
Grund der Uhrzeit, es ist kurz vor 5:00, ist wenig Verkehr.
In einem Dorf hinter Leipzig, an einer Bushaltestelle, gönne ich
mir die erste längere Pause. Ich esse mein erstes Salamibrötchen.
Eigentlich habe ich weder Appetit noch Hunger. Aber ich habe Sorge, dass
ich, wenn ich nichts esse, bald schlapp mache. Etwas mehr als 100 km habe
ich hinter mir. Mehr als ein Fünftel.
Noch ein Schluck Cola und weiter geht's.
Ich bin froh, dass ich Leipzig hinter mir habe. Bis jetzt war es Arbeit,
jetzt beginnt das Vergnügen. Bilde ich mir jedenfalls ein. Vielleicht
sieht es jetzt auch nur deshalb freundlicher aus, weil es jetzt hell ist.
Bei Kilometer 129 erreiche ich Bad Düben. Mehr als ein Viertel
ist geschafft. Noch mal das Selbe, sage ich mir, dann habe ich die Hälfte.
Das klingt eigentlich eher entmutigend. Dann sage ich es mir eben nicht.
Die Dübener Heide ist hügliger als ich dachte. Auch hatte
ich es von der Motorradtour, vor einigen Wochen, idyllischer in Erinnerung.
Aber da sind wir auch mehr Nebenstraßen gefahren.
Bis Wittenberg sind es über 30 km. Mindestens anderthalb Stunden.
Man darf eigentlich nicht darauf warten, dass man ankommt. Man muss einfach
nur fahren. Nicht zu schnell fahren. Wenn es bergauf geht runterschalten
ohne schneller zu treten. Sich damit abfinden, dass es dann langsamer geht.
Dann kommt man irgendwann an, auch ohne dass man darauf wartet.
Hinter Pratau kommt die Elbbrücke in Sicht. Der Radweg schlängelt
sich labyrinthartig, ist aber gut ausgeschildert, und man landet irgendwann
tatsächlich auf der Brücke. Ich genieße die Fahrt über
die Elbe und mache ein Foto, das erste von heute unterwegs.
In einem Park in Wittenberg mache ich meine nächste größere
Pause. Das nächste Salamibrötchen. 160 Kilometer. Ein Drittel.
Der Einfachheit halber rechne ich mit 480 Kilometer. Noch zwei mal das
ganze, dann bin ich da. Zum ersten Mal heute, kommt mit die Sache überschaubar
vor. Noch 80 km, dann ist Halbzeit. Das wird irgendwo bei oder in Potsdam
sein. Auf meinem Zettel kommen vorher noch die Etappen Treuenbrietzen und
Beelitz.
Obwohl es 32 km sind, ist Treuenbrietzen scheinbar schnell erreicht.
Die nächsten 18 km bis Beelitz dehnen sich dagegen endlos.
Einige Kilometer vor Beelitz, steht auf der Straße ein Verbotsschild
für Fahrräder. Ein Radweg zweigt im Winkel von 45 Grad ab, raus
aufs Feld. Nicht ganz meine Richtung, aber als vorbildlicher Verkehrsteilnehmer,
entscheide ich mich für den Radweg. Ich bereue es bald. Nach einigen
Serpentinen über das Feld, ohne erkennbaren Sinn, nähert sich
der Weg wieder der Straße. Hier könnte man einen steilen Hang
hoch, wieder auf die Straße, wenn da nicht eine Leitplanke wäre.
Die Straße überquert einen Fluss, der Radweg jedoch, unterquert
die Straße und folgt dann, immer noch auf der falschen Seite, dem
Flussufer. Etwa 90 Grad zu meiner eigentlichen Zielrichtung. Nach etwa
einem Kilometer folgt eine weitere 90-Grad-Kurve, wieder vom Fluss weg.
Also nun genau in die entgegen gesetzte Richtung. Schöne Scheiße. Wäre ich nur auf der Straße geblieben.
Es folgen weitere Kurven und dann endlich eine Brücke, auf der ich den Fluss überqueren kann. Danach beginnt das eigentliche Martyrium für mich und mein Fahrrad. Man hat die Straße wahrscheinlich mit Kanonenkugeln gepflastert.
Ich muss anhalten und die Armbanduhr abmachen, weil mir die schmerzhaft
auf den Handrücken schlägt. Hoffentlich hält das Fahrrad
das aus. Auf Rahmenbrüche bin ich werkzeugmäßig nicht vorbereitet.
Wegweiser stehen schon längst nicht mehr, der arme Radfahrer darf
selbst zusehen, wie er wieder auf die Straße zurück findet.
Einziger Trost ist ein LIDL in dem ich meine Colavorräte ergänzen
kann.
Auch die weitere Beschilderung ist eine Katastrophe. Ich muss das erste
und einzige Mal während dieser Tour fragen. Ein Bauarbeiter erklärt
mir schließlich, dass man auf der Straße, die mit „Sportplatz“
ausgeschildert ist, auf die Straße nach Potsdam kommt.
Von Beelitz geschlaucht, fahre ich weiter. Die Strecke dehnt sich endlos,
denn ich bin schon irgendwie auf die „Halbzeit“ fixiert. Aber die 20 km
bis Potsdam sind nun mal 20 km und somit etwa eine Stunde Fahrzeit, und
die Zeit wird höchstens länger, wenn man ständig auf den
Tacho schaut.
Endlich in Potsdam, verpasse ich dann den Moment, in dem die 240 auf
dem Kilometerzähler steht, denn es ist ein ziemliches Gefitze. Allerdings
kann ich mich in der Stadt selbst, noch an der B2 orientieren, erst später
muss ich abbiegen. Nachmittags um 13:00 ist es inzwischen, langsam wird
es Zeit für ein Mittagessen.
Falkensee und Velten stehen als nächstes auf dem Programm. Die
Ortschaften kleben aneinander, und wenn man nicht aufpasst, und die Ortsaus-
und Ortseingangsschilder übersieht, merkt man nicht mal, wenn man
im nächsten Ort angekommen ist
Momentan habe ich ein leistungsmäßiges und psychologisches
Tief erreicht. Die Hälfte habe ich geschafft, aber nun kann ich auch
ganz gut einschätzen, was ich noch vor mir habe. Es wird wirklich
Zeit für eine längere Pause.
Ich entdecke neben einer Tankstelle einen Imbiss und kaufe mir einen
Pott Kaffee und eine Currywurst mit Pommes. Bestimmt nicht das, was im
Moment sporternährungswissenschaftlich sinnvoll ist, aber ich habe
einfach Appetit darauf. Ich dehne die Pause etwas länger aus, als
nötig. Es ist einfach schön, mal wieder auf einem Stuhl mit Lehne
zu sitzen, ohne treten zu müssen. In der Tankstelle kaufe ich mir
anschließend noch 2 Büchsen RED BULL. Ich habe das Zeug noch
nie getrunken. Aber als letzte Reserve ist es vielleicht zu gebrauchen.
Die Pause hat mir wirklich gut getan. Ich unterquere das nördliche
Teilstück des Berliner Rings. Die Berliner Gegend habe ich nun endgültig
hinter mir.
Im Moment flutscht es wirklich. Ich glaube ich könnte so eine
Tour nie zu zweit oder in einer noch größeren Gruppe machen.
Allein kann man sein eigenes Tempo fahren und Pause machen wenn es einem
gefällt. Tödlich ist es, wenn man eine Zeit lang aus Rücksicht
auf den oder die Anderen schneller fährt, als man allein fahren würde.
Auf kürzeren Strecken mag so etwas funktionieren.
Oranienburg umfahre ich weiträumig. Kurz vor Nassenheide nähere
ich mich von Westen her der B96, die ich bis Neubrandenburg benutzen möchte.
Sie ist vierspurig und autobahnähnlich ausgebaut. Da ich nach Norden fahren
will muss ich sie vorher auf einer Brücke überqueren. Unter der
Brücke steht die Polizei und blitzt.
Ich bin mir unsicher, ob ich die Straße mit dem Fahrrad benutzen
darf. Es stehen keine Verbotsschilder und von der Brücke kann ich
schon die Stelle sehen, wo es wieder eine normale Landstraße wird.
Aber vor der Nase der Polizei aufzufahren, traue ich mich auch nicht so
richtig. Wenn die der Meinung sind, dass es verboten ist, habe ich schlechte
Karten. Da ist es völlig egal, wenn da keine Schilder stehen. Dabei
wäre es ungefährlich. Es ist zurzeit wenig Verkehr, und es ist
ein breiter Randsteifen da, auf dem ich fahren könnte.
Am besten ich fahre mal hin und frage. Da hin, wo sie stehen, führt
ein Feldweg. Wenn es nicht erlaubt ist, können sie mir vielleicht
wenigstens sagen, wo ich lang fahren soll. Schließlich muss es ja
möglich sein, Nassenheide mit dem Fahrrad zu erreichen.
Es ist nicht nötig, zu fragen. Einige Meter vor der Polizei kommt ein Radfahrer
aus dem Gebüsch. Ein schmaler Weg, der scheinbar nur durch die ständige
Benutzung durch Radfahrer freigehalten wird führt mich bis kurz vor
Nassenheide. (Einen Monat später fahre ich die B96 mit dem Auto. Aus
Richtung Oranienburg kommend steht vor der Kreuzung ein Schild „Achtung
Radfahrer“. Es ist scheinbar wirklich erlaubt, ab hier die Straße
mit dem Rad zu benutzen.)
Die nächsten Etappenziele sind Löwenberg, Fürstenberg
und Neustrelitz. Ich fahre diese Strecke sehr gerne. Sie ist landschaftlich
sehr schön. Mit dem Fahrrad ist es allerdings das erste Mal, dass
ich sie so am Stück durchfahre. Zwischen Löwenberg und Fürstenberg
habe ich zwei Drittel der Gesamtstrecke geschafft. Bis ich drei Viertel
geschafft habe sind es jetzt nur noch 40 km. Irgendwie verging die Zeit
auf dem letzten Stück schnell. Dafür ist es auch bereits kurz
vor 19:30 als ich in Fürstenberg bin.
Ich kaufe eine weitere Flasche Cola. Bisher habe ich 2,5 Liter Flüssigkeit
verbraucht. Ein anderer Radfahrer erkundigt sich bei mir nach dem Verlauf
des Radwegs Kopenhagen – Berlin. Ich kann ihm nicht weiterhelfen.
Meine Frau ruft mich auf dem Handy an. Sie ist zurzeit mit den Kindern
zur Kur in Bad Oexen. Sie weiß, dass ich eine Radtour mache, aber
ich habe ihr noch nicht verraten, wo hin. Ich verrate es auch jetzt noch
nicht. Ich denke, über ein solches Vorhaben sollte man vorher nicht
reden. Man wird für verrückt erklärt. Und dann erst die
Blamage, wenn man es doch nicht schafft.
In Neustrelitz fahre ich in die Innenstadt und setze mich am Markt
auf eine Bank. Es ist 20:30. Die Sonne steht schon sehr tief, wärmt
aber noch. Ich esse ein Salamibrötchen und ein SNICKERS.
Dann raffe ich mich auf. Es sind immerhin noch 120 km.
Vom Neustrelitzer Markt entfernen sich sternförmig 8 Straßen.
Nur an einer gibt es einen Wegweiser. Auf diesem steht „alle Richtungen“.
Nun ist es mit dem Auto nicht so schlimm, erst mal 5 km in die falsche
Richtung zu fahren, bis man an die Kreuzung kommt, wo es dann in der richtigen
Richtung weiter geht. Mit dem Fahrrad möchte man so etwas vermeiden.
Dennoch folge ich dieser Straße, denn die Himmelsrichtung erscheint
viel versprechend. Ich komme auf die große Umgehungsstraße.
Diese hat Radwege und sogar Wegweiser. Trotzdem muss ich erst eine Weile
in die falsche Richtung fahren, bis ich sehe, wo die Straße nach
Neubrandenburg abzweigt. Und da ist mir erst einmal eine Leitplanke im
Weg. Also zurück.
Die weitere Strecke ist recht hügelig. Innerorts benutze ich Radwege
meist nicht mehr. Die Qualität ist miserabel. Wahrscheinlich ist es
für die Kommunen zu teuer, Wege auszubessern. Ist ein Weg für
die Fußgänger nicht mehr zumutbar, wird er als Radweg ausgeschildert,
und ein neuer Weg für die Fußgänger daneben gebaut. Manche Radwege
folgen erst eine gewisse Strecke scheinbar der Straße, zweigen dann aber
rechtwinklig von der Straße ab. Meist ist dann
ein Zaun oder eine Leitplanke dazwischen, damit man nicht mehr auf die
Straße zurück kann. Folgt man dann dem Radweg, endet der im Nichts
und man kann zusehen, wie man wieder auf die Straße zurückfindet.
Manche Radwege sind auch einfach zu kurz. Der kürzeste ist zirka 4
Meter lang. Dafür lohnt es sich wirklich nicht, die Straße zu
verlassen. Um einen Artikel unter der Überschrift „Neuer Radweg gebaut“
in die Lokalzeitung zu bringen, reicht es wahrscheinlich.
Als ich Neubrandenburg erreiche ist es fast dunkel. Trotzdem ist es
nicht zu übersehen. Gleich 3 Ortseingangsschilder stehen nebeneinander.
Im Mac Donalds bestelle ich mir einen Cheeseburger und, Mac Donalds untypisch,
einen Tee, der leider nur in 200 ml-Gläsern ausgeschenkt wird. Irgendwie
komme ich mir hier deplatziert vor. Ich in alten Jeans, dreckig und verschwitzt.
Sonst hier alles junge Leute in Markenklamotten. Aber der Tee ist gut und
die Bedienung freundlich.
Neben dem Mac Donalds hat Neubrandenburg noch ein weiteres „Highlight“
für mich: Einen Radweg, der nicht von Radfahrern benutzt werden darf.
Zumindest streckenweise. Ein Schild weist darauf hin, das dies zu gefährlich
sei. Zu viel Gefälle. Man soll absteigen und sich als Fußgänger
weiterbewegen. Zwar verschwindet der Weg tatsächlich schluchtartig
im Gebüsch, aber ich komme heil unten an, obwohl ich fahre.
Am Ortsausgang von Neubrandenburg trinke ich die erste Dose RED BULL.
Es schmeckt süßlich und nach rosa Lebensmittelfarbe. Welche
Farbe es wohl wirklich hat? Eine Wirkung kann ich vorerst auch nicht spüren.
Mittlerweile ist es völlig dunkel geworden, obwohl im Norden noch
ein hellerer Streifen zu erkennen ist. Das Licht habe ich wieder in Betrieb
genommen. Es ist noch recht viel Verkehr. Die Strecke bis Friedland zieht
sich hin. In einem Dorf kann ich auf dem Tacho sehen, das ich heute bereits
mehr als 400 km zurückgelegt habe. Nicht schlecht, 400 km in weniger
als 24 Stunden.
Ich bin müde. Irgendwann komme ich in Friedland an.
Ich setze mich auf eine Mauer und esse ein SNICKERS.
Ich fahre weiter. Es ist inzwischen überhaupt kein Verkehr mehr.
Wie ich nach Anklam gekommen bin weiß ich nicht mehr. Wachkoma?
Tiefschlaf?. Meine nächste Erinnerung ist jedenfalls, dass ich plötzlich
die Kreuzung mit der Umgehungsstraße vor mir sehe.
Den Umweg mit der Umgehungsstraße kann man sich sparen, wenn
man einfach weiter gerade aus fährt. Zumindest so lange sie noch nicht
fertig ist. Denn so muss man ja doch noch in die Stadt. Und warum soll
man sie dann erst mal zu einem Viertel umrunden?
Ich fahre einen kleinen Umweg zum Bahnhof und kaufe mir ein Wochenendticket. Die Usedomer Bäderbahn
erkennt das Wochenendticket der Deutschen Bundesbahn an, verkauft es jedoch
selber nicht. Man muss sich das Ticket also vorher besorgen, sonst zahlt
man für die Usedomer Bäderbahn extra. Und das ist nicht ganz
billig, zumindest für das Fahrrad.
Es ist 1:34. Für die Fahrt nach Wolgast habe ich mir eine ruhige
Strecke über die Dörfer ausgesucht. Diese ist etwas kürzer,
als die über die B109 und die B111. Dafür ist sie schwieriger
zu finden, und das hält mich munter. Inzwischen ist es schon wieder
etwas heller geworden. Leichte Nebel schweben über den Wiesen, und
es riecht schon irgendwie nach Ostsee. Hohendorf kommt in Sicht, von dem
ich weiß, dass es der letzte Bahnhof vor Wolgast ist.
Wie lange ist es her, dass ich das letzte Mal mit dem Fahrrad in Wolgast
war? Ich glaube das war 1988, nach einer Radtour durch Polen. Ich fahre
über die Klappbrücke mit den riesigen Gegengewichten. Über
irgendwelche Brückenöffnungszeiten habe ich mir gar keine Gedanken
gemacht.
Die letzte Etappe hat begonnen. Sie ist nur 9 km lang. Wolgast – Zinnowitz.
Fürs erste geht es bergauf. Ich hatte mir hier alles eben vorgestellt.
Noch ein Ort: Bannemin.
Dann endlich rumpeln meine Fahrradreifen über das Pflaster der
Straßen von Zinnowitz. Ein Kreisverkehr. Ich schlage die Richtung
nach Gefühl ein. Noch eine letzte Steigung. Dann blicke ich auf die
Seebrücke und das Meer. Es ist 4:44. Der Kilometerzähler zeigt
483,99 km.
Es sind schon erstaunlich viele Urlauber auf den Beinen. Sie spazieren
über die Seebrücke, oder am Strand entlang. Keiner von denen
ist im Moment so zufrieden wie ich.
Ich könnte noch bis Ückeritz fahren. Dann wäre ich 500
km gefahren. Reine Zahlenspielerei. Ich bin von Jena bis an die Ostsee
gefahren. An einem Tag. Das reicht. Auch wenn es genau genommen 28 Stunden
und 44 Minuten waren.
Einige Urlauber gucken komisch. Ich merke, dass ich noch das eingeschaltete
Rücklicht hinten am Gürtel trage. Es ist noch kühl. Ich
ziehe mir das Fleeceteil mit den Wolfstatzen über. Dann laufe ich
raus auf die Seebrücke, bis ans Ende. Hier ist im Moment niemand und
ich genieße die Ruhe und den Blick auf das Meer.
Später setze ich mich auf die Treppe, die zum Strand hinunter führt.
Und schlafe ein.
Der Lärm der Urlauber, die inzwischen in großer Zahl die
Seebrücke bevölkern, weckt mich auf. Die Sonne scheint, und es
verspricht, ein schöner, sonniger Tag zu werden. Ich bin froh, dass
es gestern nicht so heiß war, wie es heute werden wird. Jetzt ist
es noch kühl und das Wasser erscheint mir noch kühler, aber ich
bade trotzdem. Wenn ich schon mal hier bin.
Ich bleibe bis 9:45. In vier Wochen habe ich Urlaub, dann werde ich
wieder hier sein. Jedenfalls irgendwo hier in der Gegend. 10:09 steige
ich in die Usedomer Bäderbahn und bin 8 Stunden später wieder
zu Hause.